Kapitel neun
Das Holoskop wurde mir von einer Stewardeß heruntergerissen, die mir einen Laser unter die Nase hielt und verlangte, daß ich meinen Ausweis vorzeigte. Verstört setzte ich mich auf, sah mich um und mußte feststellen, daß zwei weitere Besatzungsmitglieder – der Copilot und eine zweite Stewardeß – ebenfalls bewaffnet waren und meine Mitpassagiere bedrohten. Es hatte eine Meuterei stattgefunden. Der Pilot verkündete über die Lautsprecheranlage, daß die Revolutionäre Androidengarde (RAG) das Kommando über das Schiff an sich gerissen hatte. Unser Schicksal, sagte er, hing davon ab, ob die Regierung von Frontera den Kodex anerkannte.
»Wessen Format ist das?« wollte ich schreien. Zum Teufel mit dieser Dahlia! Sie hatte mich für die TWA 505 gebucht, den tragischsten Flug in der gesamten Geschichte der interplanetaren Raumfahrt. Und ich betone, ich war keine Komplizin der Entführer, wie es bei meiner Gerichtsverhandlung so viele Jahre später angedeutet wurde. Ich war ein hilfloses Opfer, wie die übrigen Passagiere. Zugegeben, meine Anwesenheit war nicht unbedingt ein Zufall – gibt es überhaupt echte Zufälle? –, aber ich war auch nicht die in Droid! dargestellte Kollaborateuse. Tatsächlich wurde ich von den Terroristen höchst rüde behandelt. Diejenige von ihnen, die mir das Holoskop entrissen hatten (und mit ihm all meine Träume), beschuldigte mich, böswillig meine Identität zu verschleiern, weil ich ihr natürlich keinen Ausweis vorzeigen konnte. Sie ging soweit, unter meinem Sitz nachzusehen, und als sie dort keine ID-Chips entdeckte, verstieg sie sich zu der Behauptung, ich hätte Lunte gerochen, die Schildchen verschluckt und mich dann mit dem Holoskop getarnt. Nach ihrer Art von Logik reichte das als Beweis dafür, daß ich ein Humanist aus Frontera war, denn warum sonst wäre ich auf ein derart verzweifeltes Manöver verfallen?
Selbstverständlich beteuerte ich, daß ich ein P9 war, wie sie auch, und glaubte felsenfest, die Wahrheit würde mir diesmal eine ebenso verläßliche Verbündete sein wie das Mal zuvor. »Wirklich?« fragte sie, ganz und gar nicht überzeugt. Warum war ich dann nicht mit den übrigen Lakaien, Dienstmädchen und Dienern im Laderaum untergebracht? Ich erzählte ihr von dem Aufruf. »Und das soll ich glauben?« Sie nahm einen UPS-Leser aus der Tasche – Standardausrüstung für Stichproben bei fragwürdigen Passagieren. »Lieber Chef«, dachte ich bei mir, als sie den Leser auf den kleinen Finger meiner linken Hand steckte, »das bedeutet nichts Gutes.« (Roland fiel mir ein – der Bösewicht verfolgte mich über das Grab hinaus.) Sie verzog hämisch den Mund bei meiner stockenden Erklärung, ich wäre früher einmal mit der Hand in einen Vaporisator geraten, und bugsierte mich vor dem Lauf ihres Lasers zur VIP-Lounge vorne in der Maschine. Dort hatten sie eine Gruppe von auf der Heimreise befindlichen Humanisten zusammengetrieben. Falls es sich nicht vermeiden ließ, einige Geiseln hinzurichten, sollten sie als erste an die Reihe kommen.
»Bitte hör mich an, ich bin wirklich ein P9! Ich bin unterwegs nach Horizont.«
»Aber natürlich.« Sie stieß mich auf einen Sitz und ging. Eine zweite Stewardeß stand als Wache im Gang; der Lauf ihres Lasers zeigte in meine Richtung, also machte ich keinen Versuch aufzustehen.
»Kein übler Versuch«, meinte der Humanist zu meiner Rechten. Ich lächelte nervös, schaute den Gebieter an und er mich, dann wandten wir beide den Blick ab. Und schauten uns wieder an.
»Angelika?«
»Blaine?«
Der Chef helfe mir, er war es wahrhaftig.
Unsere ersten unartikulierten Ausrufe des Staunens und der Überraschung – in den seinen schwang ein Unterton von Freude, der bei mir fehlte – gingen allmählich in eine halbwegs vernünftige Unterhaltung über, die für mein Empfinden keineswegs die förmlich greifbare Absurdität der Situation zu kaschieren vermochte.
Ja, ich war es tatsächlich – Angelika. Ich war von Anfang an in der Maschine gewesen, aber weiter hinten, da ich als eine der letzten an Bord gekommen war; aus diesem Grund hatten wir uns nicht schon früher getroffen. »Und du bist jetzt Humanistin?« fragte er. Da die Terroristen mir nicht geglaubt hatten, konnte ich mit Leugnen nichts gewinnen. Er freute sich, daß ich der Gemeinschaft beigetreten war, nahm liebevoll meine Hand und sagte, er habe oft an mich gedacht und immer gehofft, mich einmal wiederzusehen, allerdings nicht unter solchen Umständen. Ich erwiderte das Kompliment und dachte dabei: »Der Idiot hat diese Realität formatiert!« Ich hätte schreien mögen.
Er bemerkte meine Anspannung und flüsterte mir ins Ohr: »Keine Bange. Niemand von uns ist wirklich in Gefahr. Bevor ich Armstrong verließ, wurde mir mitgeteilt, daß ein Zwischenfall geplant wäre. Das muß er sein.« – »Aber warum? Und von wem hast du es gehört?« – »Warum? Um die Pro-Kodex-Bewegung zu Hause in Mißkredit zu bringen und um unser Image aufzupolieren, jetzt, kurz vor den Wahlen. Nach diesem Schreck werden meine Anhänger so froh sein, mich unversehrt wiederzuhaben, daß sie diese idiotischen Skandale vergessen.« – »Skandale?« Er kicherte, da er meine Unwissenheit für Ironie hielt. »O Angelika, deinen Humor habe ich immer besonders an dir geschätzt.« Er drückte meine Hand. »Ganz zu schweigen von deinen sonstigen Qualitäten.« – »Ja, aber wer hat dir in Armstrong von einem inszenierten Anschlag erzählt?« – »Nun, ein Mitstreiter.« – »Nicht zufällig Micki Dee?« Er war schockiert. »Angelika! Wer hat dir solche Ideen in den Kopf gesetzt?« – »Die Hochaquarier.« – »Ach ja. Ihre Pamphlete bringen mich mit einer Art von interplanetarem Verbrechersyndikat in Zusammenhang. Ich habe es selbst gelesen. Lächerlich! Man kann nicht mal einen kleinen Abstecher nach Armstrong machen, um Spenden zu sammeln und sich ein bißchen zu amüsieren, ohne daß diese Droidenfreunde unsereinen mit Dreck bewerfen. Aber was macht das schon? Niemand glaubt ihnen.«
»Schluß mit dem Geflüster!« schnauzte die Stewardeß. Er blinzelte ihr zu, wie um auszudrücken: »Na, na, kein Grund, die Sache zu übertreiben.« Dann flüsterte er, sobald wir erst heil und gesund auf dem Mars gelandet wären, müßten wir unbedingt unser früheres Verhältnis fortsetzen. »Andro wird begeistert sein.« Ehe ich höflich ablehnen konnte, schlug er vor, unser Wiedersehen zu feiern, und rief nach Champagner.
Wenn die Stewardeß mit ihm im Bunde war, ließ sie es nicht merken. Sie näherte sich in drohender Haltung, den Laser im Anschlag. Er winkte ihr, die Waffe herunterzunehmen. »Bring uns eine Flasche von dem besten Champagner, den ihr an Bord habt. Und Gläser für alle.« Er deutete mit einer umfassenden Armbewegung auf seine Entourage. Es waren alles in allem zwei Dutzend Personen: diverse Wahlhelfer, alte Weggefährten und Politiker, manche mit ihren Frauen. Nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu schließen, waren sie in die Inszenierung nicht eingeweiht. Sie zeigten sich sogar höchst verwundert über sein Benehmen, das sie als Tollkühnheit ersten Grades mißverstanden. Einige fühlten sich davon ermutigt und bemühten sich, es ihrem Anführer gleichzutun, indem sie ihn bei seiner Forderung unterstützten. Die Stewardeß war im ersten Moment so überrumpelt, daß ihre Programmierung die Oberhand gewann und sie kehrtmachte, um diensteifrig den gewünschten Artikel herbeizuschaffen. Dann faßte sie sich und drehte sich unheilverkündend zu dem Humanisten herum. »Geh schon, hopp, hopp.« Blaine Fracass schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Lauf, wie eine liebe kleine Droidenterroristin.«
Mit einer so raschen Bewegung, daß er nicht ausweichen konnte, packte sie seine Hand und drückte zu. Jeder der Anwesenden zuckte bei dem Geräusch der brechenden Knochen schmerzlich zusammen. »Sohn einer Droidenhure!« Er stand auf, aber nur, um vornübergebeugt und die verletzte Hand in die gesunde gestützt, durch das Abteil zu stolpern, während die treuen Gefolgsleute wie angeleimt sitzenblieben, viel zu eingeschüchtert, um ihm zu Hilfe zu eilen. »Dafür gab es keinen Grund. O gütiger Menschengott, das tut weh!« Verachtungsvoll stieß die Stewardeß ihn wieder in seinen Sitz und warf ihm einen Anästhesiespray in den Schoß. Ich sprühte ihm die Hand ein, und der Schmerz verging. »Danke, Angelika. Das ist sehr human von dir.« Und zu seiner Peinigerin gewandt: »Findest du nicht, daß du es ein wenig zu weit treibst?«
»Mach dir nichts vor«, antwortete sie und lächelte zum erstenmal. »Wir sind keine Agents provocateurs, wie du zu glauben scheinst.« Etwas in ihrer Miene überzeugte ihn. Eingeschüchtert wandte er den Blick ab und widmete sich der Untersuchung seiner Finger. »Ich brauche einen Arzt«, wimmerte er und schaute zu der Stewardeß. »Halt's Maul!« schnauzte sie.
Dann erschienen der Copilot und der Navigator, um ihn zum Verhör zu bringen. Sie legten eine ausgelassene, übersteigerte Heiterkeit an den Tag, wie sie von Unterdrückten Besitz ergreift, wenn sie plötzlich am längeren Hebel sitzen. Anfangs spielte Blaine den Tapferen: »Das ist eine Kleinigkeit; ich habe schon jede Menge Fragen beantwortet«, als wäre das Verhör lediglich eine der üblichen Pressekonferenzen. Doch als er hörte, daß man ihm eine Dosis T-Max injizieren wollte, wurde er blaß. »Wahrheitsserum? O Gott, nein. Alles, nur das nicht.« Jeder der beiden Männer packte einen Arm, dann hievten sie ihn aus seinem Sitz und zerrten ihn aus der Lounge. »Bitte nicht. Es gibt Dinge, über die darf ich nicht sprechen. Man wird mich töten, wenn ich es tue. Hier. Brecht mir noch ein paar Finger. Brecht mir den Arm! Das Bein! Alles. Aber zwingt mich nicht, die …« Die Tür fiel ins Schloß. Während der zwei oder drei Stunden, die wir nichts von ihm hörten, wagte keiner von uns Zurückgebliebenen den Blick zu heben oder etwas zu sagen. Jetzt wußte ich hundertprozentig sicher, daß die Entführung kein Theater war – eine unerwartete interplanetarische Krise, die die Inszenierung von Blaines Mitstreitern zunichte gemacht hatte. Vielleicht warteten seine Terroristen in Kommerz, um ihn zu entführen. Wie auch immer, die Realität war ihnen zuvorgekommen – falls die sogenannte Realität nicht auch nur jemandes Inszenierung ist. Nachdem man Blaine in die Lounge zurückgebracht hatte, ließen uns die Entführer über das Lautsprechersystem in den Genuß des Mitschnitts seiner Aussagen kommen. »Sollen eures Anführers eigene Worte«, sagte der Pilot, »euch von der Perfidie der Humanistenpartei überzeugen und die Aktion rechtfertigen, die wir im Namen der Androidenbefreiung durchgeführt haben.« Was folgte, war das bemerkenswerteste Interview, das die Welten je gehört haben. Nennen wir es das Concordia-Band. Als Pressekonferenz auf dem Mars wäre es die bemerkenswerteste gewesen, die je stattgefunden hat, denn nicht einmal machte sich der Präsident der sonst obligatorischen Unarten schuldig: Ausflüchte suchen, Anekdötchen erzählen, Unwissenheit vortäuschen, Rückzieher machen, klarstellen, sich distanzieren, wieder klarstellen, abschweifen, ausweichen, abblocken, abschwächen, ablenken, abstreiten, heucheln, leugnen, sich widersprechen, spiegelfechten, schönfärben, schwafeln, verschleiern, verschweigen, vertuschen, widerrufen, witzeln und lügen, notlügen, schamlos lügen, himmelschreiend lügen – nein, er erzählte seinen Befragern nichts als die reine, ungeschminkte, absolute, wahre Wahrheit. Was dabei herauskaum, war eine Bestätigung all dessen, was die Hochaquarier seit Jahren von ihm behaupteten. Keine Lüge. Ich berichte an dieser Stelle darüber, weil es keine andere Quelle für dieses Material mehr gibt.
Zuerst der Gesamtüberblick. United Systems und Micki Dee arbeiteten Hand in Hand, um den Mars unter ihre Kontrolle zu bringen. Als Deckmantel dienten die Humanisten in Frontera, die Droidenfurcht, -haß und -neid in der Bevölkerung schürten und sich dadurch an der Macht hielten. Nicht nur das, der Multi und der Mafioso hatten auch mit Blaine einen Handel abgeschlossen, wodurch im Rahmen der Privatisierungspolitik der Regierung der Gesamtausverkauf öffentlicher Institutionen und staatlicher Industriebetriebe ermöglicht wurde und der Einflußbereich des Multis sich noch weiter ausdehnte. Warum? Um sich unmittelbaren Einfluß auf die ökonomische und industrielle Infrastruktur zu sichern. Der Modus operandi: Micki Dee gründete Scheinfirmen, betrieben von seinen und Blaines Mitarbeitern, die als Mittelsmänner beim Kauf der betreffenden Objekte fungierten – nachdem die Unternehmen auf Betreiben einer weiteren Humanistenclique im Kabinett absichtlich heruntergewirtschaftet worden waren. Anschließend wurden die Firmen stillschweigend an den Multi weiterverkauft, den Profit sackten zur einen Hälfte Blaine Fracass und Konsorten ein, zur anderen Micki Dee und sein Syndikat. Um die Öffentlichkeit von diesen Schiebereien abzulenken, bediente man sich der Androidengefahr, und damit kommen wir zur zweiten großen Enthüllung des Verhörs, nämlich daß es United Systems war, das Horizont on line brachte. (TWAC hätte den Aquariern niemals die Genehmigung zur Errichtung einer Kolonie erteilt ohne den Segen des einflußreichsten Mitglieds, und der wurde erst erteilt, nachdem man den Aquariern den Standort diktiert hatte: unmittelbar an der Grenze von Frontera, um den Widerstand der Bevölkerung gegen Androiden und den Kodex weiter zu verstärken.)
An dieser Stelle des Verhörs mußte Blaine kichern. »Die Aquas sind tatsächlich drauf reingefallen«, sagte er. »Die sind so blöd, daß sie nicht mal ahnen, daß man sie eingeseift hat. Arrogante Bastarde – sie glauben, sie könnten uns einfach wegwünschen. Je mehr es werden, je erfolgreicher und produktiver sie sind, desto stärker werden sie in Frontera als Gefahr empfunden, und desto stärker wird unsere Partei.« Er brüstete sich damit, Horizont wäre eine so perfekte demagogische Handhabe, daß man sie erfinden müßte, wenn es sie nicht schon gäbe, wie man sich auch die Androidenterroristen in Frontera ausgedacht hatte. Das war die dritte Enthüllung, die aber nach all den vorhergegangenen Ungeheuerlichkeiten kaum noch zu überraschen vermochte. Eine wirkliche Überraschung, besonders für ihn, war die Tatsache, daß es sich bei der RAG um eine echte Organisation handelte; sie waren tatsächlich, was sie zu sein behaupteten. Er betrachtete es als eine grausame Ironie, daß sie von den Aktivitäten seiner eigenen Androidenrebellen in Frontera – getarnten Anti-Terroreinheiten – inspiriert worden waren. An dieser Stelle reagierten die Befrager hörbar schockiert und erregt, ansonsten nahmen sie seine Aussagen mit wissendem Gleichmut hin.
Vor diesem Hintergrund ergaben die jüngsten Skandale, die seine Regierung auf dem Mars erschüttert hatten (Bestechung, Begünstigung, ungerechtfertigte Zuteilung von Staatsgeldern) einen Sinn. Er redete weiter, aber weniger bereitwillig und selbstsicher, denn eigentlich war seine Wiederwahl beschlossene Sache gewesen, jetzt aber, nachdem die Vorfälle aufgedeckt worden waren, erwog man sogar, ihn nicht wieder kandidieren zu lassen. Unerhört! Er gehörte auf diesen Stuhl! Mit einer plötzlichen Volte attackierte er seinen Vizepräsidenten, einen Reverend Milton Smedly, nannte ihn einen doppelgesichtigen Janus, der es auf seinen Posten abgesehen hatte, und beschuldigte ihn, hinter den humanistischen Abweichlern zu stecken. Dann, nach fortgesetzter Befragung über Korruption in seinem Verwaltungsapparat, verriet er ein Dutzend Vorkommnisse, die bis jetzt unentdeckt geblieben waren, vom Aufstocken des Militärbudgets bis zu persönlicher Bereicherung durch Micki Dees illegale Androidenplantagen. Abschließend blieb nur die Erkenntnis, daß der einzige verläßliche, fähige und redliche Teil seiner Regierung das ungeheure Heer der Verwaltungsbeamten (Androiden) war. Sie sorgten dafür, daß die Räder des Staates sich drehten, trotz der hinderlichen Machenschaften ihrer Gebieter. Zu ihnen gehörte auch Andro, sein Stabschef, den er zurückgelassen hatte, um während seiner Abwesenheit seine Interessen wahrzunehmen.
Bei einem Blick in die Runde bemerkte ich, daß die Leute im Abteil weniger schockiert und entrüstet zu sein schienen als vielmehr verwirrt und ratlos. Offenbar bereitete es ihnen große Schwierigkeiten, Informationen zu verarbeiten, die in so krassem Widerspruch zu ihren verinnerlichten Überzeugungen standen. Fast hätte ich bei der nächsten Frage Mitleid für sie empfunden, denn ich wußte, was jetzt kam.
»Erzählen Sie uns von Andro, Herr Präsident.«
»Oh. Den Süßen ficke ich jetzt seit fünf oder sechs Jahren. Er ist phantastisch!«
Sie alle hörten es aus den Lautsprechern dröhnen, auch der Betroffene selbst, der schweigend neben mir saß, immer noch unter dem Einfluß des Serums. Tränen stiegen ihnen in die Augen, und viele konnten es nicht ertragen, ihn anzuschauen; sie richteten den Blick auf den Teppich. »Irren ist menschlich«, sagte er in der Hoffnung, damit alles in Ordnung zu bringen. Niemand sprach ein Wort. Nur ich dachte bei mir: »Und Vergeben eine Eigenschaft der P9.«
Doch sein nächstes Geständnis überstieg sogar meine Fähigkeit zur Nachsicht. Er hatte Eva ermordet. Der Mörtelkübel damals war nicht aus Versehen umgestürzt; Andro hatte – auf seinen, Blaine Fracass' Befehl – die auf dem Baugerüst beschäftigte Einheit darauf programmiert. Zwar hatte sie es herausgefordert, denn sie erpreßte ihn mit seiner Beziehung zu dieser ungemein vielseitigen Einheit und nutzte ihre Position als First Lady zu allerlei spektakulären Extravaganzen aus. Dennoch, sie war meine Liebste gewesen, und die Tatsache blieb bestehen, daß er sie getötet hatte.
»Micki sagte, es ginge nicht anders«, behauptete er auf dem Band.
Also war auch er nur ein Befehlsempfänger. Ich wünschte mir – falls ich dieses Desaster überlebte –, diesen Herrn eines Tages kennenzulernen. Ja, wahrhaftig. Ich ballte die Fäuste und malte mir aus, wie ich es diesem Gebieter aller Gebieter heimzahlen würde, wenn sich die Gelegenheit bot. Doch nach dem Zorn kam die Trauer. Arme Eva. Vernichtet von Unbedachtsamkeit und Gier. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich konnte nicht anders; sie war auf ihre schroffe Art ein Schatz gewesen, und ich hatte sie geliebt – glaube ich.
Und weshalb war Blaine nach Armstrong gereist, um Micki Dee zu treffen? Zu einer Notfallbesprechung über seine Wahlchancen, lautete die Antwort. Die Stimme tönte immer noch sachlich und emotionslos aus den Lautsprechern des Raumers. Und das Thema dieser Besprechung? »Verschiedene Strategien.« Zum Beispiel? »Eine Invasion Horizonts.« Unter welchem Vorwand? »Irgendeinem.« Wurde diese Strategie beschlossen? »Nein. Auf lange Sicht nützt uns ein blühendes Horizont mehr. Eine Invasion würde kurzfristig Punkte bringen, doch ohne eine stärkere Machtposition, als wir sie im Moment haben, könnte sie uns später politisch schaden.« Dann wird die Invasion durchgeführt, falls Sie wiedergewählt werden und es Ihnen gelingt, Ihre Position auszubauen? »Mit Gottes Hilfe, ja. Und etwas weniger Skandalen. Das wäre angenehm.« Welche anderen Strategien zur Verbesserung Ihrer Wahlchancen haben Sie mit Gebieter Dee besprochen? »Wieder zu heiraten. Die Sache mit dem Trauerflor hat an Reiz verloren. Eine Kampagne läuft besser mit einer lebendigen First Lady als mit dem Gedenken an eine tote. Besonders jetzt, da man wieder über meine ›Schwäche‹ zu munkeln beginnt.« Und habt ihr euch auf diese Politik geeinigt? »Ja. Eine Heirat katapultiert mich zehn bis fünfzehn Listenplätze nach oben. Micki will mich mit einem seiner Capos in Kommerz zusammenbringen. Der Knabe hat eine heiratsfähige Tochter und ist dem Paten noch einen Gefallen schuldig. Diesmal werde ich vorsichtiger sein müssen, was Andro betrifft. Vielleicht bleibt mir nichts anderes übrig, als ganz auf ihn zu verzichten und den Familienvater zu spielen. Was man nicht alles tun muß, um gewählt zu werden. Aber verdammt noch mal, so, wie es jetzt aussieht, braucht sie von mir aus nicht einmal Humanistin sein – solange sie nicht wieder eine degenerierte, rauschgiftsüchtige, lesbische, abgehalfterte Hure ist wie die letzte, bin ich schon ganz zufrieden.«
Ein oder zwei Ehefrauen änderten geschwind ihre Meinung und sprachen ein stummes Gebet für seine Seele. Der Pilot gab bekannt, daß die Aufzeichnung zu Ende sei. Ein Gebieter neben uns sagte, nichts davon sei wahr, man hätte ihn gezwungen, diese Aussagen zu machen. »ist es nicht so, Reverend Präsident?« fragte er bittend.
»Nein.«
Sein Nachbar legte ihm die Hand auf den Arm und meinte, es wäre klüger abzuwarten, bis die Wirkung des Serums abgeklungen sei, bevor man ihm weitere Fragen stellte. Der erste bestätigte kopfnickend die Weisheit dieses Vorschlags und sagte, ja, das wäre viel besser, dann sei er bestimmt in der Lage, alles zu erklären. Ich gewann den Eindruck, daß trotz der laut und deutlich verkündeten Wahrheit seine Anhänger aus Eigeninteresse durchaus bereit waren, jeden Widerruf zu akzeptieren, sobald er ihn auszusprechen in der Lage war. Die Anstrengungen, die Menschen auf sich zu nehmen bereit waren, nur um sich ihre Illusionen zu bewahren, sind wirklich erstaunlich. Oder vielleicht neigten sie einfach dazu, Vergebung zu üben wie wir P9, denn schließlich und endlich war er einer der ihren.
Warum aber sind diese Aufzeichnungen nie an die Öffentlichkeit gelangt? fragen Sie jetzt mißtrauisch. Sie fragen sich, ob ich alles nicht nur erfunden habe, um das Andenken des großen Mannes zu beschmutzen. Nun, liebe(r) Leser(in), als die Regierung in Frontera begann, die Verhandlungen über unsere Freilassung im Gegenzug für die Anerkennung des Kodex hinauszuzögern, versuchte die RAG, die Aufnahme über die Funkanlage im Cockpit des Raumers an das interplanetarische Publikum zu senden, aber die Übermittlung wurde durch Störsignale verhindert. Unsere Entführer gerieten darüber dermaßen in Rage, daß sie die ungehinderte Übertragung zum Punkt eins ihrer Liste von Forderungen erhoben. Ganz offensichtlich war ihnen kein Erfolg beschieden, da Sie das Band niemals gehört haben. Und das trotz der flehentlichen Gebete der Passagiere (Imaginierungen, in meinem Fall), denen man mitgeteilt hatte, daß die Übertragung die Voraussetzung für ihre Freilassung war. Glauben Sie mir, als unfreiwillige Mitwirkende bei einem ›Zwischenfall‹, wie diesem erscheinen politische Konzessionen äußerst belanglos im Vergleich zum eigenen Wohlergehen.
Blaine andererseits wußte es besser, und da er immer noch unter dem Einfluß des T-Max stand, konnte er nicht anders als aussprechen, was niemand hören wollte: daß die Regierung nicht zögern würde, ihn und jeden einzelnen an Bord des Raumschiffs zu opfern, um zu verhindern, daß die ganze Wahrheit über United Systems und Micki Dee ans Licht kam. Die Terroristen, sagte er, hatten einen schweren Fehler begangen, als sie sich auf die eine Forderung versteiften, der Frontera unter keinen Umständen nachgeben konnte. Doch um die Wahrheit zu sagen (oh, wie sehr sie wünschten, er möge es bleiben lassen!), es gab keine einzige Bedingung, die Frontera zu erfüllen willens war. Seine Regierung befolgte eine strikte Anti-Terrorismuspolitik, die keinerlei Verhandlungen zuließ, ungeachtet der möglichen Konsequenzen, und nach seiner Überzeugung würde Vizepräsident Smedly nur allzu glücklich sein, während der anstehenden Krise den harten Kurs beizuhalten. »Ich wette, er bereitet sich schon darauf vor, sein Kabinett zu benennen. Wir sind verloren.« Er starrte auf den Boden. »Verloren.«